Einleitung und Kommentar zur laufenden Ausstellung von Michael Endlicher. 18.09.-13.11.2021. Geöffnet jeden Samstag von 11 bis 14 Uhr und nach Voranmeldung unter +43 676 650 6990.
Dank
Danke an den Künstler Michael Endlicher und an das Aufbauteam Renate Holzmayer, Herta Heisler, Walter Maringer und Franz Aigner. Dank auch an die Marktgemeinde Kirchberg am Wagram und die Bundesimmobiliengesellschaft, dass wir vorübergehend wieder Hausmeister der ehemaligen Jugenderziehungsanstalt und Veranstalter sein dürfen.
Am zweischneidigen Titel dieser Ausstellung Wortgeflechte/Wortgefechte ist schon zu sehen, dass es hier weniger um Eindeutiges und jedenfalls nicht um Eindimensionales gehen wird. Es steckt viel Kontroversielles in den Werken, die allesamt zum Diskurs, zum Reflektieren anregen und auch auf den speziellen Charakter dieses Ausstellungsortes und seiner Räume in eindrucksvoller Weise eingehen.
Der Ausstellungsort
Über diesen Ort, der nicht immer Ausstellungsort war, muss vorweg einiges gesagt werden. Warum ist der Verein Kunst Kultur Kirchberg im ehemaligen Gefängnis, später „Anstalt für Erziehungsbedürftige“ tätig?
2015, ein Jahr nach der Gründung des Vereins und während der Eröffnung einer Ausstellung in der Galerie AugenBlick (gleich im ehemaligen Bezirksgericht vis-à-vis ange-siedelt), zeigt mir Hanna Scheibenpflug, bildende Künstlerin aus Oberstockstall, mit den Worten „Hier steht unser großes und liegt vielleicht unser eigentlich wichtiges Projekt vor uns.“ Dabei zeigt sie auf das gegenüberliegende, historische Gefängnisgebäude.
Aus dieser Vision, die der Verein schon damals entwickelt hatte, wurde 2017 arbeitsreiche Realität: Mit dem Projekt „Spurensuche“ (Jänner bis April 2017) und anschließender „Öffnungszeit – Gefängnis wird Kulturraum“ (Mai 2017) im Rahmen des Niederösterreichischen Viertelfestivals wurde mit mehr als 20 Künstler:innen verschiedener Sparten eine Wieder-Öffnung des Hauses und seiner Geschichte unternommen.
Etwa 1.200 Besucher:innen – sehr viele aus der Region – haben an geführten Touren durch das Haus und die Ausstellung teilgenommen. Ein Wiederentdecken einer verschütteten, verdeckten und teils auch verdrängten Geschichte.
Seitdem haben etwa 70 künstlerische Interventionen im Haus stattgefunden von ca. 50 Einzelkünstlerinnen und -künstlern.
Parallel verfolgt der Kulturverein das Projekt zur historischen Dokumentation, die wir gemeinsam mit Historiker:innen planen, die FH St. Pölten hat mit Student:innen sozialpädagogische Themen in Verbindung mit den Zuständen in der ehemaligen Jugenderziehungsanstalt behandelt.
Mit diesen Aktivitäten hat sich das Haus kontinuierlich verändert und auch unsere Einstellung zu diesem Ort. Deshalb denken wir nun noch gezielter über die zukünftige Nutzung des Objektes nach, auch wenn wir unseren Hausmeisterjob am Ende dieser heute eröffneten Ausstellung von Michael Endlicher am 13. November wieder vorübergehend an den Nagel hängen. – Nur bis zum nächsten Mal, das schon geplant wird für 2022 als ein herausforderndes Theaterprojekt in unserem kleinen Kirchberger Kulturquartier.
Zur Ausstellung
Diese Ausstellung beginnt in der ersten Zelle mit einem einzigen Werk. Es ist eine hochformatige Holzplatte (ein Fundstück übrigens) mit der markant eingefrästen Inschrift: „DIESES BILD HAT IMMER DAS LETZTE WORT“.
Nehmen Sie diesen Beginn als Schlüssel und als programmatischen Anfang, da Sie ihren Sinn öffnen müssen für Bild und Text, für Buchstaben und Symbole, für Signale und Botschaften und ihre Beziehungen zueinander und zu Ihnen selbst.
Und erlauben Sie es sich, aus Ihrem ganzen Repertoire von Erinnerungsmöglichkeiten und Vorstellungswelten zu schöpfen, indem Sie den Raum der alltäglichen Wahrnehmung wie durch weit geöffnete Fenster für frische Luft und spürbaren Durchzug erweitern. Sie werden sehen, dass gerade auch dieser Ort diese Offenheit braucht und verstehen Sie auch, dass nur durch Sie als Besucher:innen diese Öffnung in diesem Haus stattfinden kann.
Zum Künstler
Michael Endlicher, studierter Betriebswirt, äußerst erfahrener Textarbeiter und Virtuose der Doppelbödigkeit und Doppelzüngigkeit lebt und arbeitet in Wien und ist Mitglied des Wiener Künstlerhauses.
Er realisiert seine Werke als Malereien, als ortsspezifische Installationen, als Objekte und seit Neuestem auch als Skulpturen. Er arbeitet mit Performances, in denen er wortreich seine ungewöhnlichen Litaneien in Szene setzt.
Als Videokünstler schafft er teils verwirrende, kontemplative und intellektuell herausfordernde Medienkunstwerke, die immer eines gemeinsam haben: Sie eröffnen buchstäblich alternative Einsichten. Manchmal hat man das Gefühl, dass der herrschende Common Sense, das Alltagswissen, das Alltagsverhalten und seine vielgestaltigen Ausprägungen mit scharfer Klinge gespitzt oder zurechtgestutzt werden.
Endlicher erzählt Geschichten mit seinen Werken auf besondere Art: Man hat das Gefühl, dass er nicht von außen zu einem spricht, sondern dass er aus einer Positionen erzählt, so als wäre er irgendwie in den Kopf der Betrachter:innen gelangt, mit deren Gedankenwelt er spielt.
Er spricht Lebensentwürfe an und ihre Bruchlinien, in einer Form, die weniger dem externen Erzähler entspricht, als vielmehr meiner jeweils eigenen Art nachzudenken – bruchstückhaft, wiederholend, verwinkelt und verwunden – die wenigsten Leute denken ja ständig im ganzen Satz. Vieles entdeckt man so sprunghaft, sehr vieles erschließt sich erst durch vielfache Repetition.
In diesem Feld – das ist meine Vermutung und gleichzeitig auch Interpretation – strebt Endlicher als Künstler höchste Präzision an. Und ich füge hinzu: Weit ist er dabei gekommen!
Er setzt auf Systeme und Systematik, positioniert seine Werke gewissermaßen als Kontrapunkte zum Konzept einer salopp gesagt „romantischen“ Ästhetik- und Kunstsicht.
Die Werkgruppen
Welche Werkgruppen sehen wir in der Ausstellung? Es erwarten uns viele Buchstaben, das kann ich schon versprechen. Welche genau, sei kurz erklärt:
Dramenbleche und Kopfbleche
Kleine Blechtafeln sind mit jeweils einer Zahl und drei Begriffen gestanzt. Die Systematik dazu geht davon aus, dass 26 Buchstaben jeweils eine Zahl von 1 bis 26 in der Reihenfolge von A bis Z entspricht. Die daraus gebildeten Worte ergeben jeweils eine Buchstabensumme. Nur Worte, deren Buchstabensumme der Zahl auf dem Blech entsprechen, werden auf ebendieses Blech gestanzt.
Das System ist simpel, die Auswahl – es sind immer drei Begriffe – ist assoziativ ebenso, wie thematisch gestützt aufgrund der Interessen des Künstlers. Es entstehen (Binnen-)Erzählungen auf hohem Abstraktionsniveau zu Großthemen wie Herrschaft, Macht, Konflikt, Schuld, Sexualität, Glauben, Gesellschaft, Individualität und Künstlerschaft. – Das sind jedenfalls Endlichers thematische Arbeitsfelder als Künstler.
Nennen wir sie „Dramen“, stellen die Bleche also kleine Bühnen vor, auf denen wir unsere Vorstellungswelten zu den jeweiligen Begriffen spielen können; es entstehen Szenen vor unseren geistigen Augen, lebhafter Austausch, spannende Entwicklungen.
Variationen zu den Dramenblechen sind solche, die zusätzlich noch Bilder als Hintergründe enthalten. Z.B. Porträts historische Heerführer, wie Sie sie in der Ausstellung im ersten Stock finden.
Signs – Gemälde als Buchstabenbilder
Malerei und Grafik sind Kernkompetenzen des Künstlers Michael Endlicher. Seine Gemälde auf Leinwand setzen sich aus übereinander geschichteten Buchstaben zusammen, die in ihrer Farbigkeit, Formensprache und Ausführung vollkommen eigenständig sind, aber auch vielfach wie Zitate aus der Gestaltgeschichte, der modernen Kunstgeschichte lesbar sind.
Ihre Aussagekraft gewinnen sie im assoziativen Herangehen der Betrachter:innen. Geheimnisvoll unaufgedeckt bleibt immer die Herleitung der Form aus den jeweiligen Buchstaben und die Buchstaben selbst. – Wenn man in der Musik von Schallraum spricht, der mehr als bloß die Ausbreitung der Schallwelle im Raum ist, dann wäre für Endlichers Gemälde vermutlich der Begriff Zeichenraum passend, der Zeichen umfasst, die als System und Formen immer auch welt- und gestaltbildend sind.
Videos – Reflexionen in Bewegtbildern
Eine bislang noch nie gezeigte Videoarbeit findet sich im Erdgeschoss mit dem Titel “I HAVE TO BELIEVE“, eine Art Dissensdialog zu Glaubensfragen oder vielleicht auch ein Transzendenzdiskurs mit Happy End.
Eine weitere Videoarbeit findet sich im ersten Geschoss mit dem Titel „LEIBHAFTIG PLURIFAKT“, in der Michael Endlicher ein prägendes Thema seiner Arbeit aufgreift, nämlich die spezifische Rolle als Künstler und deren querliegende Situation in der Gesellschaft.
Auf Nachfrage können wir Ihnen eine weitere Videoarbeit von Michael Endlicher aus 2019 vorspielen. Nämlich „ICH MÖCHTE FOLGENDES KLARSTELLEN“; für mich eine wunderbare Verstörung und Vertiefung eines/seines künstlerischen Weltbildes.
Installationen und Objekte
Installationen und Objekte finden sich gleich an mehreren Stellen in der Ausstellung, die auf dem Rundgang leicht zu entdecken sind.
Zwei Objekte geben dieser Ausstellung eine subtile Prägung: Zuerst „DEATH IS NOT THE END“. Sie wird in einer Zelle mit vier „INVERTED ICONS“ auf Email – „I DON’T BELIEVE YOU ANY MORE“ – präsentiert. Und weiters der „AUTOMAGIC MIRROR“ als Beschwörung eines guten Lebens, umgesetzt als beunruhigend wirkende Autosuggestion.
Ebenso sind zwei Installationen prägend für die Ausstellung: Zuerst ein Set von Buchstabenbildern, die den Titel eines Popsongs, den die Rolling Stones 1964 berühmt gemacht haben, bilden: „TIME IS ON MY SIDE“. Dann eine ortspezifische Intervention im Zellengang, die den historischen Kontext des Gebäudes und den Umgang damit seit der Schließung der Anstalt im Jahr 1974 aufgreift: „WHO IS AFRAID OF HISTORY?“.
Fürchten Sie sich nicht! – Die Ausstellung bietet eine wunderbare Reise ins Innere unserer Vorstellungswelten und stellt einen Künstler vor, der das große Ganze im Blick hat und dafür ständig neue Teile schafft.
In der Ausstellung liegt ein Katalog zu Michael Endlichers Arbeiten zum Verkauf auf. Die Werke der Ausstellung sind mehrheitlich verkäuflich.
Geöffnet jeden Samstag von 11-14 Uhr und nach Voranmeldung unter +43 676 6506990.
Wolfgang Giegler, 18.09.2021 aus Anlass der Eröffnung